Fragen aus Foren: Hörprüfungen bei Kindern

In diversen Foren – hauptsächlich im Kidmed-Forum – sind mir schon viele Fragen zur HNO-Medizin gestellt worden. In Foren beantworte ich die Fragen unter dem Namen “wovapa” (Wolfgang Vahle, Paderborn). In unregelmäßiger Folge werde ich einige Fragen und meine Antworten – bearbeitet und ergänzt – in dieser Kolumne veröffentlichen.
 
Frage:
Meine Tochter ist 3 Jahre alt und spricht noch nicht viel. Der HNO-Arzt sagt, sie sei auf einem Ohr schwerhörig. Er hat von „OAE“ gesprochen und von „BERA“. Und dann hat er noch eine „Impedanzmessung“ gemacht. Meine Tochter ist erkältet und hat einen Paukenerguss. Außerdem ist eine Ohrmuschel nicht so ausgebildet wie die andere.
 
Kann man überhaupt bei einem Paukenerguss feststellen, wie das „eigentliche Hörvermögen“ ist? Sind bei einem Paukenerguss die OAE- oder die BERA-Werte überhaupt verwendbar? Oder kann das schlechte Hörvermögen an der schlechter ausgebildeten Ohrmuschel liegen? Mir schwirrt der Kopf! So viele Begriffe! So viele Untersuchungsmöglichkeiten! Jetzt weiß ich gar nichts mehr…
 
wovapa:
Es gibt eine ganze Reihe von Hörprüfungen, die sich ergänzen; gerade bei Kindern, die noch so klein sind, dass sie nicht kooperieren können, ist man darauf angewiesen, soviel Information wie möglich zu bekommen.

Zum besseren Verständnis sollte man zunächst die Hörprüfungen bei Erwachsenen unter die Lupe nehmen.

Das Ohr hat aus funktioneller Sicht zwei wesentliche Anteile: Außen- und Mittelohr übertragen den Schall und das Innenohr wandelt den Schall um in elektrische Nervenimpulse.

Man mag sich vielleicht fragen, warum man überhaupt ein Mittelohr zur Schallübertragung braucht, denn wenn es nicht vorhanden wäre, würde der Schall ja direkt auf das Innenohr treffen und das Mittelohr müsste dann auch nichts mehr übertragen. Also: die reine Schallübertragung ist nicht das wichtigste Funktion des Mittelohres! Das Mittelohr muss den Schallwiderstand der Luft dem des Wassers anpassen (das Innenohr enthält ja „Wasser“ – Lymphflüssigkeit). Als unsere Vorfahren noch im Meer lebten, brauchten sie in der Tat kein Mittelohr. Das „Seitenlinienorgan“ der Fische z. B. nimmt die Schallwellen im Wasser direkt wahr. Als die Lebewesen später das Land eroberten, brauchten sie ein Mittelohr, weil Schallwellen in der Luft zu schwach sind, die Innenohrflüssigkeit direkt zum Schwingen zu bringen. Der wissenschaftliche Name für einen Wellenwiderstand ist „Impedanz“. Das Mittelohr ist ein „Impedanzwandler“.

Die normale „Impedanzmessung“ ist also eine reine Mittelohrfunktionsprüfung. Sie sagt nichts über die Innenohrfunktion aus.

Man kann mit Hilfe einer Art „erweiterter“ Impedanzmessung aber auch Reflexantworten aus dem Mittelohr prüfen: der „Musculus stapedius“ (ein kleine Muskel im Mittelohr) zieht sich reflektorisch zusammen, wenn der Schall sehr laut wird – möglicherweise zum Schutz des Innenohres). Dieser Reflex wird über das Innenohr ausgelöst. Die Muskelzuckung verändert kurzzeitig die Impedanz. Verändert sich also auf einen lauten Prüfton hin die Impedanz, dann hat der Muskel gezuckt und das Innenohr hat folglich zuvor den Ton auch gehört (an ertaubten Ohren lässt sich der Reflex nicht nachweisen). – Die Reflexauslöse-Schwelle ist aber ziemlich hoch, sodass man die Hörschwelle keineswegs bestimmen kann.

Die Impedanzwandlung im Mittelohr bewirkt also, dass der Schalldruck angepasst wird und die Schallempfindung im Innenohr verstärkt wird. Fällt das Mittelohr aus, dann kommt nur ein Bruchteil der Schallinformation in das Innenohr: eine Schwerhörigkeit ist die Folge. Diese Schwerhörigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass alle Frequenzen (Tonhöhen)  gleichermaßen betroffen sind. Wenn der Schallübertragungsweg gestört ist, dann gilt das für die tiefen und die hohen Töne gleichermaßen. Außerdem kann man das kranke Mittelohr „austricksen“: man kann einen „Knochenleitungshörer“ direkt auf den Knochen hinter dem Ohr („Warzenfortsatz“) aufsetzen. Der Schall umgeht dann das kranke Mittelohr und gelangt direkt in das Innenohr: plötzlich scheint die Schwerhörigkeit dann behoben zu sein! Anders ausgedrückt: zwischen der (schlechten) Luft- und der (guten) Knochenleitungsschwelle ist ein gewisser Abstand (den man „GAP“ nennt) vorhanden. Diese beiden Eigenschaften: gleichmäßiger Schwellenverlauf über alle Frequenzen und Luftleitungs-Knochenleitungs-GAP kennzeichnen die sogenannte „Schallleitungs-Schwerhörigkeit“ (SLS). Eine SLS funktioniert wie das Dämpferpedal am Klavier: die akustische Information ist zwar abgeschwächt, aber grundsätzlich noch vorhanden.

Fallen Sinneszellen im Innenohr aus, dann sind nur die Frequenzen betroffen, für die diese Sinneszellen zuständig waren. Die Hörschwellen bei einer Innenohrschwerhörigkeit („Schallempfindungs-Schwerhörigkeit“, SES) sind also im gesamten hörbaren Frequenzband bei unterschiedlichen Frequenzen unterschiedlich. Außerdem lässt sich die Innenohrschwerhörigkeit nicht mit Hilfe des Knochenleitungshörers „austricksen“: der GAP ist nicht vorhanden. Eine SES ist vergleichbar einem Klavier, bei dem mehrere Seiten gerissen sind. Die akustische Information wird „verstümmelt“. In gewissem Maße kann man die fehlende Information durch intelligente Hörgerätetechnik zurückgewinnen – aber es lässt sich nicht jeder Verlust ausgleichen.

Bei kooperativen Erwachsenen kann man also einen guten Überblick über das Hörvermögen gewinnen, wenn man bei unterschiedlichen Tonhöhen sowohl die Luft- als auch die Knochenleitungsschwelle misst.

Mit Hilfe dieser „konservativen“ Audiometrie kann man also auch die Leistungsfähigkeit des Innenohres messen, selbst wenn ein Paukenerguss vorliegt: dann findet man eben eine „kombinierte“ Schwerhörigkeit! Der SLS-Anteil ist dann z. B. durch einen Paukenerguss bedingt und rückbildungsfähig. Der SES-Anteil muss dann meistens mit Hörgeräten ausgeglichen werden.

Je jünger die Patienten sind, desto schwieriger die konventionelle Audiometrie. Kleine Kinder lassen sich mitunter durch eine „Spielaudiometrie“ locken: jedesmal, wenn sie einen Ton gehört haben, dürfen sie einen Bauklotz aus einem Eimerchen in ein anderes Eimerchen legen (oder Bildchen oder oder oder …). Das ist aufwändig, weil die Kinder erstmal Vertrauen fassen müssen zur Untersucherin. Sie müssen auch erstmal lernen, was sie tun sollen. Diese Methoden gehören zur „Pädaudiologie“.

Sind die Kinder noch jünger, funktioniert das auch nicht mehr. Dann müssen objektive Messmethoden her.

Eine wichtige Methode ist die Messung der „otoakustischen Emissionen“ („OAE“). Die OAE werden von den äußeren Haarzellen ausgelöst – aber nur von lebenden! Die äußeren Haarzellen sind ja kleine Muskelzellen, die im Rhythmus des Schalls schwingen und so mithelfen, die Basilarmembran im Innenohr „aufzuschaukeln“. Sind die OAE nachweisbar, dann müssen die äußeren Haarzellen lebend und gesund sein. Findet man die OAE nicht, dann darf man keineswegs im Umkehrschluss annehmen, dass die äußeren Haarzellen alle abgestorben seien! Schlechte Messbedingungen können die OAE regelrecht „verstecken“! Die sind dann zwar vorhanden, aber niemand weiß das! – Mittelohrfunktionsstörungen sind z. B. solche schlechten Messbedingungen. Bei einem Paukenerguss kann man keine OAE finden. Also kann man mit den OAE bei einem Paukenerguss nicht viel anfangen.

Die OAE sind übrigens nicht zur genauen Schwellenmessung geeignet. Man kann nur sagen, dass der Hörverlust nicht größer als 30 dB sein kann, wenn man die „transitorischen“ OAE („TOAE“, eine Unterform der OAE) findet. Sind die „Distorsionsprodukte“ („DPOAE“, eine andere Unterform der OAE) vorhanden, kann der Hörverlust nicht größer als 50 dB sein.

Die OAE erlauben aber eine gewisse Frequenzabschätzung eines eventuellen Hörverlustes. Dabei ist das Frequenzband aber leider nicht allzu üppig breit. Findet man z. B. bei 1 und 2 kHz TOAE, oberhalb von 2 kHz aber nicht mehr, dann weiß man, dass die Messbedingungen gut waren und die fehlenden OAE im Hochtonbereich sehr wahrscheinlich auf einen Hochtonverlust hindeuten!

Eine weitere Methode ist die Ableitung der durch Schallwellen ausgelösten („akustisch evozierten“) elektrischen Aktivität („Potenziale“). Das Innenohr wandelt ja den Schall in elektrische Nervenimpulse um (s. o.). Diese kann man dann zu verschiedenen Zeiten nach der Auslösung messen. Die interessierenden Potentiale haben übrigens eine Stärke im Bereich von nanoVolt (ein Milliardstel Volt). Die von Muskeln, EKG und EEG ausgehenden „Stör“spannungen haben eine Größenordnung von milliVolt (tausendstel Volt). Die Störspannungen sind also eine Million mal größer als die Nutzspannungen. Um die Nutzspannungen dennoch messen zu können, braucht man leistungsfähige Computer. Die Potentiale werden durch Mittelwertbildung („Averaging“) aus dem Hintergrundrauschen hervorgehoben – nur ein Computer kann das in Echtzeit berechnen!

Man nennt diese Form der Audiometrie auch „Hirnstamm-Audiometrie“, weil die akustisch evozierten Potentiale zum großen Teil im Hirnstamm entstehen. „Hirnstammaudiometrie“ heißt auf englisch: „brainstem electric response audiometry“ – abgekürzt „BERA“).

Die Auslösung der akustisch evozierten Potentiale („AEP“) erfolgt durch clicks. Clicks enthalten mehr oder weniger alle Frequenzen zwischen 1 und 3 kHz. Eine Frequenzabschätzung ist also auch nur eingeschränkt möglich.

Im Gegensatz zu den OAE kann man aber auch bei Paukenergüssen die AEP ableiten und also auch die Innenohrleistung abschätzen!

Das wichtigste Potential der AEP ist die sogenannte „Welle V“ (römische 5). Diese Welle kommt recht stabil immer nach der selben Zeit nach dem auslösenden click. Diese Zeit heißt „Latenzzeit“ und sie ist abhängig von der Reizstärke. Reduziert man die Reizstärke, dann nimmt die Latenzzeit zu. Findet man jetzt z. B. bei einer Reizstärke von 80 dB eine Welle V mit einer Latenzzeit, die für 50 dB typisch ist, dann kann man etwa abschätzen, dass die fehlenden 30 dB im Mittelohr verloren gegangen sein müssen!

In der Praxis ist das natürlich nicht immer so einfach! Je geringer die Reizstärke, desto unsicherer wird auch die Welle V. Und bei Hörverlusten habe ich als Untersucher von vornherein weniger Reizstärken zur Verfügung als bei einem normalen Hörvermögen! Aber irgendwo muss ja auch noch ein wenig Raum sein für die ärztliche Kunst und Erfahrung!

Da alle Methoden theoretisch bedingte Messunsicherheiten haben, ist man oftmals auf mehrere Messungen angewiesen! Es ist nichts schwieriger, als mittelgradige Schwerhörigkeiten bei Kindern nachzuweisen! Ein normales Hörvermögen: kein Problem! Eine Ertaubung: auch kein Problem (beim Nachweis). Aber die mittelgradigen Schwerhörigkeiten dazwischen: das geht nur durch mehrfache Kontrollen.

Ein gutes Hörvermögen ist für die richtige Sprachentwicklung absolut notwendig. Nur über ein gutes Gehör kann man die eigene Aussprache kontrollieren! (Man kann auch nicht schön schreiben, wenn die Augen verbunden sind!) Wenn Menschen taub sind, sind sie in der Folge auch stumm („Taubstummheit“). – Aber umgekehrt gilt das wieder nicht: Menschen nicht nicht richtig sprechen können, müssen nicht schwerhörig sein! Es gibt auch andere Gründe, warum die Worte manchmal nicht so glatt aus dem Mund fließen! Dann muss man eben Sprechen üben. Dazu gibt es dann die Logopädinnen und Logopäden.

Man kann nicht flächendeckend bei allen Menschen das Hörvermögen überprüfen. Deshalb „stürzt“ man sich auf die „Schlechtsprecher“, weil man dann mit einem geringeren Aufwand eine höhere „Findequote“ hat – ohne dass man die „Gutsprecher“ vernachlässigt oder gefährdet.

Zur Ohrmuschel: eigentlich ist eine nicht gut ausgebildete Ohrmuschel nicht automatisch ein Grund für ein schlechtes Hörvermögen. Wenn die Ohrmuschel regelrecht missgebildet ist, muss man aber nachsehen und untersuchen, wie weit die Missbildung geht. Ist der Gehörgang geöffnet? Kann man das Trommelfell sehen? Wenn ja, ist es unwahrscheinlich, dass das Innenohr missgebildet ist. Die unübliche Schallreflexion an einer missgebildeten Ohrmuschel wirkt sich im Audiogramm praktisch nicht aus – wenn Mittelohr und Innenohr in Ordnung sind.

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