Das Mittelohr ist uninteressant… oder…?

Das Mittelohr regt doch niemanden auf! Warum soll man dazu überhaupt Worte verlieren… Das tut doch nur jemand, der vermutlich Langeweile hat…Das Mittelohr befindet sich – wie der Name schon sagt – mitten zwischen dem Außen- und Innenohr. Es ist luftgefüllt – jedenfalls, solange es gesund ist. Und es gibt die drei Gehörknöchelchen („Ossikel“) mit den lustigen Namen „Hammer“, „Amboss“ und „Steigbügel“. Der Hammer ist am Trommelfell befestigt und die ovale Fußplatte des Steigbügels sitzt im ovalen Fenster des Innenohres. Das war’s eigentlich schon…

Nun ja, die drei Gehörknöchelchen sind die kleinsten Knochen unseres Körpers. Sie sind – das muss man zugeben – schon ziemlich filigran! Und sie sind untereinander noch gelenkig verbunden. Kleine Muskeln gibt es auch noch: Der „Muskulus stapedius“ und der „Muskulus tensor tympani“ können die Gehörknöchelchen aktiv bewegen. Es ist tatsächlich ein schönes Stück Feinmechanik, was die Evolution da hervorgebracht hat! Warum nur? Warum der große – heute würde man sagen: teure! – Aufwand, ein Mittelohr zu „bauen“, das doch nur krank werden kann? Vielleicht liegt es ja daran, dass die Phönizier das Geld noch nicht erfunden hatten, als die Evolution das Mittelohr entwickelt hat…?

Das Mittelohr ist jedenfalls in der Evolutionsgeschichte aufgetreten, als unsere Vorfahren dem Meer entstiegen und an Land gekrochen sind. Fische haben kein Mittelohr. Fische können ohne Mittelohr Wellen im Wasser erkennen: Sie haben ein „Seitenlinienorgan“. Mit seiner Hilfe können sie Schallwellen im Wasser sozusagen „primitiv“ detektieren.

Wir haben ja alle schon mal als Kinder im Schwimmbad getaucht. Sobald man mit den Ohren unter Wasser ist, ändert sich die Welt! Es ist merkwürdig still unter Wasser… Zwar hört man zum Beispiel Klopfgeräusche, die unter Wasser entstehen oder die Blubberblasen beim Ausatmen, aber die Freunde am Beckenrand hört man nicht! Warum nicht?

Der Luftschall kann nicht in das Wasser hinein! Er wird von der Wasseroberfläche zurück geworfen – „reflektiert“ – wie Licht an einem Spiegel.

Ich komme nicht umhin, an dieser Stelle ein paar Informationen über den Schall aufzuschreiben!

Beim Schall handelt es sich um eine Weiterleitung von Energie durch ein „Medium“. Schall kann sich nur in einem Medium ausbreiten. Meistens ist Luft das Medium, jedenfalls für uns Menschen und die Tiere, die an Land leben. Wasser ist auch ein Medium, das Schall transportieren kann, sonst hätten die Fische kein Seitenlinienorgan nötig!

Beim Luftschall passiert folgendes: Luftteilchen werden periodisch angestupst und wieder zurückgesaugt, zum Beispiel von einer Stimmgabel oder irgendeiner anderen Schallquelle. Sie geraten in Schwingung. Die Luftteilchen stupsen ihre Nachbarn an und diese wiederum ihre Nachbarn. Die angestupsten Luftteilchen rücken ihren Nachbarn „auf die Pelle“: Der Luftdruck erhöht sich in diesem kleinen Bereich. Wenn die Luftteilchen zurückschnellen, während ihre gerade angestupsten Nachbarn nach vorn schnellen, sinkt der Luftdruck in diesem kleinen Bereich. In dem kleinen Video „Schallwellen sind Längswellen“ symbolisieren die Lichtpunkte Luftteilchen, sodass man eine Vorstellung bekommen kann. – Bereiche mit höherem und niedrigerem Luftdruck wechseln sich ab und breiten sich aus, rasend schnell mit 343 Meter pro Sekunde – jedenfalls in Luft von 20 °C. Diese Bereiche wechselnden Luftdrucks „jagen in die Welt hinaus“ und mit Ihnen Energie und Informationen! Die Schallenergie verteilt sich auf einen immer größer werdenden Bereich! Die Schallfront breitet sich kugelförmig aus und die Energiedichte sinkt mit dem Quadrat des Abstandes! In einem kleinen Video kann man eine Schallwellenfront in der Ebene sehen. Die dunklen Bezirke symbolisieren Bereiche mit einem höheren Druck und die hellen Bezirke Bereiche mit einem niedrigen Druck. Wie bereits gesagt: In Luft von 20 °C beträgt die Schallgeschwindigkeit 343 m/s. In Wasser von 10 °C ist sie viel höher: sie beträgt mehr als 1500 m/s!

Schallwellen sind sogenannte „Longitudinalwellen“ („Längswellen“), das heißt, die Luftteilchen schwingen in der Ausbreitungsrichtung vor und zurück. Wasserwellen hingegen sind sogenannte „Transversalwellen“ („Querwellen“): Wenn die Wasserwelle sich nach vorn ausbreitet, dann schwingen die Wasserteilen auf und ab. Man kennt das ja – hat man ja schon mal gesehen… Jeder Regentropfen, der in eine Pfütze fällt, zeigt uns die transversalen Wasserwellen… Bitte nicht verwechseln: Schallwellen im Wasser sind auch Schallwellen (Längswellen) und keine Wasserwellen (Querwellen)!

Unabhängig davon, ob Longitudinal- oder Transversalwellen: Alle Wellen haben physikalische Eigenschaften, die sie charakterisieren. Es gibt einmal die „Frequenz“, die die Anzahl der vollständigen Schwingungsperioden pro Sekunde angibt und es gibt die „Amplitude“, die die Höhe der Wellenberge und -täler angibt. Wenn mehrere Wellen im Spiel sind, gibt es noch die „Phasenverschiebung“, die angibt, wie viel „Vorsprung“ eine Welle vor der anderen hat. Frequenz und Amplitude sind Eigenschaften, die Informationen enthalten und die wir mit unseren Ohren hören können. Unsere Innenohren können die in Frequenz und Amplitude „versteckte“ -„codierte“ – Informationen wieder „entdecken“ – „decodieren“ – und für uns nutzbar machen. Und  diese Informationen sind es, die wir für unsere Kommunikation ausnutzen!

Nun aber wieder einen Schritt zurück: Die Luftteilchen sind leicht. Sie können andere Luftteilchen leicht anstoßen. Sie müssen dafür keine große Kraft aufwenden. Und wenn sie auf Wasserteilchen stoßen? Wasserteilchen sind schwer! Das funktioniert nicht! Leichte Luftteilchen können schwere Wasserteilchen nicht in Schwingungen versetzen! – Ich kann ja auch keine Kirchenglocke läuten lassen, wenn ich sie mit Wattebäuschchen bewerfe! – Die Medien „Luft“ und „Wasser“ setzen dem Schall einen Widerstand entgegen. Den Widerstand in einem schwingenden System nennt man „Impedanz“. Die sogenannte „Schallkennimpedanz“ bezeichnet man in Formeln mit dem Buchstaben „Z“. In Luft von 20 °C ist Z gleich 413,6 Ns/cbm und in Wasser von 10 °C ist Z gleich 1.440.000,0 Ns/cbm! Wasser hat also eine 3.481,62 mal so große Schallimpedanz als Luft! – Die Zahlen muss man sich nicht merken; man kann sie ja jederzeit hier wieder nachlesen… Bei einem fast 3.500 mal so hohen Widerstand ist es klar, dass der Luftschall das Wasser nicht „beunruhigen“ kann!

Nun aber mal wieder zurück zu unseren Ohren! Unsere Innenohren sind bekanntlich mit Flüssigkeit gefüllt – mit Wasser und ein paar Salzen. Lebewesen, die im Meer leben und lebten – also auch unsere Vorfahren – konnten mit diesen „Geräten“ unter Wasser hören. Der Schall hat sich im Wasser ausgebreitet und dabei nicht nur die Wassermoleküle des Meeres in Schwingung versetzt, sondern auch die des Innenohres. Das Innenohr konnte die im Schall enthaltenen Informationen decodieren und nutzbar machen – wichtig für das Überleben und die Fortpflanzung!

Als unsere Vorfahren jedoch dem Meer entstiegen sind, war die Schallinformation im Meerwasser nicht mehr so interessant. Viel interessanter war die Schallinformation, die im Luftschall des neuen Lebensraumes enthalten war. Aber diese Informationen konnten das Innenohr nicht erreichen! Der Schall prallte am Innenohrwasser einfach ab und wurde zurückgeworfen in die Welt – einfach“reflektiert“ – und weg! Kein Wunder: Die Impedanz des Innenohrwassers ist fast 3500 mal so hoch wie die der Atmosphäre! Unsere Vorfahren müssen sich so gefühlt haben, wie wir heute, wenn wir beim Tauchen mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche gehen! Alles war still!

Unsere Innenohren sind immer noch mit Flüssigkeit gefüllt! Und wie wir heute wissen, können wir durchaus den Schall in unserem luftgefüllten Lebensraum hören! Die Evolution hat eine Vorrichtung „erfunden“, die den Schallwiderstand (Impedanz) der Luft an den des Wassers anpasst. Einen „Impedanzwandler“! Ein Mittelohr! Erst das Mittelohr versetzt uns in die Lage, mit einem wassergefüllten Innenohr dennoch Luftschall hören zu können!

Linkes Trommelfell

Die Impedanz wird im Mittelohr durch zwei sich ergänzende Mechanismen angepasst. Die größte Wirkung geht von den unterschiedlich großen Flächen von Trommelfell und Steigbügelfußplatte aus. Das Trommelfell ist viel größer als die Steigbügelfußplatte. Das Trommelfell sammelt also die Schallenergie wie ein Sammellinse das Licht und fokussiert es auf die kleine Steigbügelfußplatte im ovalen Fenster des Innenohres. Auf diese Weise „gewinnt“ das Mittelohr 20 dB. Der zweite Mechanismus läuft über die Hebelwirkung der Gehörknöchelchenkette.

Innenohrschnecke – Bogengänge – Mittelohr mit Ossikel

Die Gehörknöchelchen sind untereinander mit ihren Gelenken so verbunden, dass eine große Auslenkung des Trommelfells zu einer kleinen Auslenkung der Steigbügelfußplatte führt. Und da nach den Hebelgesetzen bekanntlich Kraft mal Kraftarm gleich Last mal Lastarm ist, hat die Steigbügelfußplatte genügend Kraft, um die Innenohrflüssigkeit „in Wallung“ zu bringen. Über den Hebelmechanismus der Gehörknöchelchenkette „gewinnt“ das Mittelohr noch mal 5 dB.

Schauen wir uns mal die Leistungsfähigkeit unserer Ohren an.

Ein gerade eben wahrnehmbarer Ton von 1 kHz (= 1000 Hz = 1000 Schwingungen pro Sekunde) hat einen Schalldruck von 0,00002 N/qm. Das ist nahezu unvorstellbar wenig! Gut – die Hörschwelle wird wesentlich vom Innenohr bestimmt. Aber ohne das Mittelohr käme am Innenohr kaum etwas an! Unser Ohr ist durchaus ein „Gesamtkunstwerk“!

Prof. Fleischer hat in seinem Buch „Lärm, der tägliche Terror“ ein sehr schönes Beispiel angegeben! Angenommen, die Erde wäre im Inneren hohl und mit 20 °C warmer Luft gefüllt. Es soll im Inneren der Erde windstill sein. Im Mittelpunkt der Erde sitzt ein Schlagzeuger und schlägt zwei Schlagzeug-Hölzchen gegeneinander. Der Schall breitet sich in der Luft der luftgefüllten Erde kugelförmig aus nach außen in Richtung Erdoberfläche. Wenn keine weiteren Nebengeräusche vorhanden sind, dann kann ein hörgesunder Mensch, der sein Ohr auf die Erdoberfläche legt, etwa 5 Stunden, 9 Minuten und 36 Sekunden nach dem Schlag den Ton so gerade eben hören!

Kann man sich vorstellen, wie wenig sich die Luftteilchen – und damit auch das Trommelfell! – bei einem so leisen Ton hin und her bewegen? Nein, man kann es sich nicht vorstellen. Man kann es berechnen – vorstellen nicht! Für die Berechnung der Schallauslenkung „Xi“ benötigt man den Schalldruck und die Frequenz des Tones und die Schallkennimpedanz „Z“. Die entsprechende Formel habe ich mal in einer Excel-Tabelle programmiert. Wenn man den Schalldruck unserer Hörschwelle bei 1 kHz eingibt und auch den Wert Z, dann berechnet die Formel, um welche Strecken die Luftteilchen vor und zurück schwingen (so wie die Lichtpunkte in dem kleinen Video oben).

Schauen Sie sich die Berechnung an:

An der Hörschwelle bei 1 kHz schwingt unser Trommelfell um knapp 15,4 % des Durchmessers eines Wasserstoffatoms hin und her! Ich suche immer noch nach dem Rechenfehler… Es ist unglaublich! Es ist aber auch unglaublich faszinierend!

Jetzt kann man sich vielleicht vorstellen, warum Belüftungsstörungen im Mittelohr („Tubenkatarrh“) oder die „Überschwemmung“ im Mittelohr („Paukenerguss“) so gravierende Folgen auf das Hörvermögen haben. Und man versteht jetzt vielleicht auch eher, warum die Natur dieses empfindliche System im Falle einer Erkrankung durch einen starken Schmerzreiz schützt!

Und ich möchte noch ein paar Worte über die moderne Ohr-Chirurgie verlieren. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass es uns HNO-Ärzten möglich ist, in einem derartig filigranen System hörverbessernde Operationen durchführen zu können! Ohne die Hilfe der Ingenieure, die in technischen Laboren der Universitäten ausrechnen, wie künstliche Gehörknöchelchen beschaffen sein müssen – welches Gewicht sie haben dürfen, welche Festigkeit, welche Steifigkeit, welche Impedanz, welches Material – wären diese heutigen Operationserfolge auch nicht möglich – wobei ich keineswegs die Pionierleistung der frühen Ohrchirurgen schmälern will, die – allein auf sich gestellt – bahnbrechende Erfolge erzielt haben! Herzlichen Dank auch an die Optiker, die uns leistungsfähige Operationsmikroskope zur Verfügung stellen, ohne die wir im Mittelohr nichts bewirken könnten!

Jetzt habe ich viele Worte zum Thema „Mittelohr“ verloren. Nein – ich habe keine Langeweile! Ich bin nur begeistert von der Leistungsfähigkeit unserer Ohren und möchte diese Begeisterung gern mit jemandem teilen! Und die Geschichte ist noch längst nicht zu Ende erzählt…

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