Posturographie – Balanceprüfung für Stand und Gang

Copyright: Fotowerk - FotoliaDie Stand- und Gangfestigkeit herzustellen und zu bewahren, ist eine wesentliche Aufgabe unseres Gleichgewichtssystems! Um diese komplexe Aufgabe zu bewältigen, benötigt das Gleichgewichtssystem aber mehr als nur ein paarig angelegtes Gleichgewichtsorgan!

Folgende Systeme sind daran beteiligt, unsere Balance zu halten:

1. Das vestibuläre System
Die „eigentlichen“ Gleichgewichtsorgane bestehen aus jeweils 3 Bogengängen zur Messung von Drehbeschleunigungen um jedwede Achse und aus zwei Otolithen“blasen“ – „Sacculus“ und „Utriculus“ zur Messung der Linearbeschleunigung (Erdanziehung)

2. Das visuelle System
Unsere Augen orientieren sich an senkrechten Linien (Häuserkanten, Bäume) und an großen Flächen, auf denen wir immer senkrecht stehen wollen (an Steilabgründen führt das zu Konflikten mit den anderen anderen Messfühlern – wir werden schwindelig!)

3. Die „Körperfühlsphäre“
Unsere „propriozeptiven“ Messfühler geben uns Aufschluss über die Lage unserer verschiedenen Körperteile – Kopf, Rumpf, Arme, Beine – zueinander. Sie merken, wenn wir Arme oder Beine bewegen. Die propriozeptiven Sensoren fühlen das Gewicht von Armen, Beinen, Kopf, Körper. In der Haut sind ebenfalls Sensoren; so spüren wir mit den Fußsohlen den Druck unseres Körpergewichtes im Stand oder Gang und mit der Sitzfläche den Druck unseres Körpergewichtes im Sitzen. Mit „eingeschlafenen Füßen“ können wir nicht mehr sicher stehen oder gehen!

4. Das periphere Nervensystem
„Afferente“ Nerven transportieren die Informationen aus den Sensoren zum Gehirn, zum zentralen Nervensystem („ZNS“), wo alle Informationen verarbeitet werden.

5. Das Gehirn („ZNS“ – „zentrales Nervensystem“)
Die Schaltzentrale und der „Computer“, der unser Gleichgewicht regelt und steuert. Ein sehr wichtiges Organ für das Gleichgewichtssystem ist auch das „Kleinhirn“!

6. Das periphere Nervensystem – Teil 2
„Efferente“ Nerven transportieren Steuerbefehle vom Gehirn zu den Muskeln. – Störungen des peripheren oder zentralen Nervensystems gehen sehr häufig mit Gleichgewichtsstörungen einher. Mit zerebralen Durchblutungsstörungen, Nervenentzündungen, multipler Sklerose, Parkinsonkrankheit, Schlaganfall oder Hirntumoren kann man Schwierigkeiten bekommen, das Gleichgewicht zu halten.

7. Die Muskeln
Unsere Muskeln sind die „Motoren“, die „Stellglieder“, die die Befehle des ZNS‘ ausführen. Drohen wir, nach vorn zu fallen, dann ziehen uns unseren Rückenmuskeln wieder zurück. Stehen wir auf einem Bein, kann man fühlen, wie die Bein- und Fußmuskulatur ununterbrochen arbeitet, um den Körper auf der kleinen Standfläche stabil zu halten. Muskelerkrankungen können zu Stand- oder Gangunsicherheiten führen.

Copyright: RobertKneschke - FotoliaSolange alle Organe gut arbeiten, merken wir nichts von unserem Gleichgewichtssystem. Es arbeitet still und leise vor sich hin, klaglos wie eh und je. Fallen ganze Sensoren, Nerven oder Hirnanteile aus oder Muskeln, dann ist unser sicheres Gleichgewicht massiv bedroht. Aber nicht nur manifeste und große Störungen können zu Problemen führen! Auch kleine, nahezu unmerkliche Störungen können sich zu Problemen aufsummieren, wenn mehrere Organe betroffen sind. Ich vergleiche das gern mal mit Musikinstrumenten: Wenn eine einzelne Flöte ein wenig verstimmt ist, dann kann man die Melodie noch ganz passabel erkennen. Wenn ein Klavier ein wenig verstimmt ist, ist das auch so (man denke an ein „Westernklavier“). Gleiches gilt für eine Geige, Oboe, Klarinette, Trompete, Posaune … Aber wehe, wenn alle Instrumente im gesamten Orchester ein wenig verstimmt sind, dann klingt die Musik ganz grausam …

Wenn wir älter werden und gesund sind, dann ist die Leistungsfähigkeit aller unserer Organe „altersentsprechend normal“. Haben Sie es bemerkt? „Altersentsprechend normal“ ist nicht „normal“! Es ist eine Einschränkung! Auch wenn alle am Gleichgewicht beteiligten Organe und Systeme „altersentsprechend normal“ arbeiten, kann es dennoch zu Gleichgewichtsstörungen und Schwindel kommen! Manchmal nennt man das „Altersschwindel“. Dieses Wort ist in unserer Kultur nicht sehr beliebt. Leider richtet sich die Natur nicht nach unserer Kultur: Die entsprechenden Probleme sind trotzdem in der Welt! Und da wir ja freundlich sein wollen, nennen wir den „Altersschwindel“ gern auch mal „multisensorischen“ oder „multizentrischen“ Schwindel. Das hört sich besser an – aber gewonnen ist nichts!

Was kann man gegen diese komplexen Gleichgewichtsstörungen therapeutisch unternehmen? Einen Jungbrunnen gibt es ja leider nicht! Und ein Schwindel kann ja durchaus auch bei jungen Menschen auftreten!

Am besten wirksam sind Übungsbehandlungen! Unser Gehirn und unser Nervensystem sind „plastisch“ und „lernfähig“. Durch Übungen kann man oftmals erreichen, dass gesunde Anteile die Funktion der kranken Anteile übernehmen. Das tun sie aber nicht „von allein“ – man muss nachhelfen: üben!

Noch wirksamer als allgemeine und unspezifische Übungen, sind gezielte Übungen, die speziell auf die jeweilige Patientin / den jeweiligen Patienten „zugeschnitten“ sind. Und um das zu erreichen, benötigen wir eine Diagnostik, die das gesamte Gleichgewichtssystem beurteilt und nicht nur die beiden Gleichgewichtsorgane.

Und nun kommen wir zu dem Wort, das oben in der Überschrift steht: „Posturographie“. Die Posturographie gehört nicht zur „Urologie“! Diese Untersuchung misst die unwillkürlichen Körperschwankungen und zeichnet sie auf („Posturographie“ ist sprachlich verwandt mit dem englischen Wort „posture“ = Körperhaltung. Auch das Wort „Positur“ hat den gleichen Wortstamm). Es ist klar, dass Patienten mit Gleichgewichtsstörungen heftiger schwanken als gesunde Menschen ohne Gleichgewichtsstörungen! Und Menschen, die aufgrund ihrer Gleichgewichtsstörungen heftig „schwanken“, haben ein erhöhtes Sturzrisiko!

Lange Zeit gab es nur eine „statische“ Posturographie. Diese Messgeräte sind auch als „Wackelplatten“ bekannt. Stellt man sich auf eine solche Platte, dann registrieren die Messgeräte jede Veränderung des Körperschwerpunktes. Inzwischen stehen aber mit modernen „Gyroskopen“ Messgeräte zur Verfügung, die klein und hochgenau sind und auch noch sehr schnell neue Messwerte ermitteln können (derartige Gyroskope sind u. a. auch in Navigationsgeräten und in vielen Smartphones verbaut). Diese Geräte können nun am Körper getragen werden. Und so eröffnet sich neben den Untersuchungen der Standfestigkeit der große Kosmos an Untersuchungen, die sich um die Gangsicherheit „kümmern“! Und wenn man dann noch Stand und Gang mal mit offenen, mal mit geschlossenen Augen untersucht, dann bekommt man auch noch Aufschluss darüber, ob mehr das vestibuläre System oder mehr das optische System betroffen ist. Prüft man Stand und Gang mal auf hartem Boden, mal auf Schaumstoff, dann bekommt man zusätzlich noch Aufschluss darüber, ob das vestibuläre System oder das „propriozeptive“ System (siehe oben Punkt 3) stärker betroffen ist.

Foto: Dr. Wolfgang VahleAlle diese Untersuchungen führen wir mit dem kleinen „VertiGuard“-System durch. Das Gerät kann aber noch mehr! Es vergleicht alle individuellen Messungen mit dem Durchschnitt der Messwerte von gesunden Personen gleichen Alters und gleichen Geschlechts. Daraus wird eine prozentuale Abweichung aller – standardisierten! – Übungen vom Mittelwert berechnet und daraus wiederum das individuelle Sturzrisiko.

Und das Gerät kann noch mehr! Sollte das Sturzrisiko erhöht sein, dann kann man die Testabläufe, die bei der Diagnostik am schlechtesten abgeschnitten haben, mit Hilfe eines individuell erstellten Übungsplanes richtiggehend trainieren. Das kleine Gerät hilft mit. Es sind Foto: Dr. Wolfgang Vahle4 Vibratoren angeschlossen, die mit einem Gürtel am Patienten befestigt werden. Wenn der Patient zuviel nach rechts schwankt, dann vibriert rechts ein kleiner Summer. Bei Schwankungen nach links, vorn oder hinten, werden die entsprechenden anderen Summer aktiv und vibrieren. Die Vibratation darf dabei ruhig schwach oder sogar unmerklich sein: Wichtig ist, dass das Gehirn aus dieser Rückkopplung – „Neuro-Feedback“ – lernt! Die Gleichgewichtssituation verbessert sich! Es sind 10 Übungstage erforderlich: Zwei Wochen lang täglich von Montag bis Freitag. Bis zu 6 Übungen können geübt werden – natürlich unter Aufsicht und Hilfestellung des Praxispersonals! Und wenn man nach den 2 Wochen eine Kontrollmessung durchführt, dann stellt man meistens fest, dass sich das Sturzrisiko deutlich reduziert hat (natürlich nicht auf „null“!). Manchmal ist auch eine zweite Übungsserie sinnvoll, wenn zum Beispiel das Sturzrisiko immer noch zu hoch ist und nach der ersten Übung jetzt andere Testsituationen an das „schlechte Ende“ der Skala gerutscht sind!

Aber „alles in Allem“ sind die Untersuchungen und die Übungen sehr gut geeignet, um das Sturzrisiko zu senken! Und wenn man sich erst mal wieder sicherer auf den Beinen fühlt, dann wird man die neugewonnene „Freiheit“ nutzen und sich mehr bewegen! Und bei diesen Bewegungen wird der Übungseffekt „ganz von allein“ fortgesetzt, sodass nicht nur eine Kurzzeit-, sondern eine Langzeitwirkung vorhanden ist!