Alternative Medizin: Eine Alternative?

Alternativmedizin als Alternative zur Humanmedizin?

Seit langem frage ich mich, warum wenden sich Menschen von der wissenschaftlichen Medizin ab und den alternativen Heilmethoden zu. Ich weiß es nicht! Aber ich habe einige Gedanken hierzu!

Mir fällt auf, dass von den Anwendern der alternativen Methoden, die sich selbst für verantwortungsbewusst und seriös halten, immer wieder gesagt wird, bei schweren Erkrankungen wie Krebs und Aids würden sie sich zurückhalten und die naturwissenschaftliche Medizin empfehlen. Also alternative Methoden für alles, außer Krebs und Aids? Wie ist es mit den übrigen – zum Teil schweren und lebensbedrohenden – Infektionskrankheiten? Grippe? SARS? Ebola? Hepatitis? Tuberkulose? Masern? Diphtherie? Das ist doch sicher auch nichts für die alternativen Methoden! Weiter: Endokrine Krankheiten wie Diabetes mellitus, Schilddrüsen-Hormon-Störungen, Cortisonmangel (M. Addison) – ist das vielleicht etwas für die alternative Medizin? Nein! Herzinfarkt? Asthma? Nein!! Neurologische Erkrankungen? Schlaganfälle? Krampfanfälle? Parkinson? Multiple Sklerose? Nein!! Nierenerkrankungen? Gar mit Dialysepflicht? Nein!!! Psychiatrische Erkrankungen? Depressionen? Schizophrenie? Nein! Nein! Nein! Die Liste ist längst nicht vollständig! 

Welche Krankheiten wollen die Alternativen eigentlich behandeln? Wenn die wissenschaftliche Medizin keine Heilungsmöglichkeiten kennt, dann hat die alternative „Medizin“ erst recht keine! Was also wird behandelt? 

Viele Patienten sind offensichtlich unzufrieden mit der wissenschaftlichen Medizin. Sie wandern ab zu alternativen Heilmethoden. Sie hoffen und erwarten, dass sie dort zufriedener und gesünder werden können. Meine Antwort: Zufriedener – vielleicht ja. Gesünder – definitiv nein!

Viele Patienten werfen der wissenschaftlichen Medizin vor, im Großen und Ganzen könne auch die wissenschaftliche Medizin die Menschen nicht gesünder machen. Stimmt das? 

Die Lebenserwartung ist ein „hartes“ Kriterium zur objektiven Abschätzung der Leistungsfähigkeit der wissenschaftlichen Medizin. Sie hat rasant zugenommen! Wir stehen jetzt vor dem Phänomen, dass in den späteren Lebensabschnitten neue Krankheiten auftauchen, die es früher nicht gab, weil die Menschen nicht die Chance hatten, den Beginn der Erkrankung zu erleben. Aber auch andere Erfolge gibt es: Die Heilungsquoten beim Krebs werden immer höher, die Überlebenszeiten immer länger. Die Kindersterblichkeit sinkt. Die Behandlung der „großen“ und häufigen Krankheiten wird objektiv immer besser! Bluthochdruck und Diabetes mellitus können effektiver behandelt werden; es müssen immer weniger „diabetische Füße“ amputiert werden. Die Zahl der Magenoperationen ist drastisch zurückgegangen, seit es möglich geworden ist, mit modernen Medikamenten eine „Eradikation“ – „Ausrottung“ – des Keims „Helicobacter pylori“ zu bewerkstelligen. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. 

Und die Patienten sind unzufrieden! Sie leiden weiter. Sie leiden so, als wenn nichts geschehen wäre! 

Meine These: Das Leiden ist unabhängig von seiner Ursache. Die „Leidenssumme“ bleibt konstant. Im Krieg haben die Leute gelitten, weil sie verkrüppelt worden sind. Heute leiden die Patienten, weil ihre Haut zu trocken ist oder zu fettig. Bei mir hat sich mal ein Patient bitterlich beklagt, weil er sich jeden Morgen einmal die Nase putzen muss!  – Was wäre, wenn es den Dermatologen gelänge, die Faltenhöhe und Runzeltiefe der Haut von vielleicht einem halben auf einen zehntel Millimeter zu verringern? Die Leute würden ihre „Falten“ und „Runzeln“ mit der Lupe suchen – und immer noch genauso leiden! 

Und jetzt kommt es: Werden diese Patienten von wissenschaftlich orientierten Ärzten mit hohem Aufwand behandelt, heißt es, die Hochschulmediziner schössen „mit Kanonen auf Spatzen“. Ist der Doktor ehrlich und sagt, diese „Krankheit“ ist gar keine Krankheit, sondern eine Form der Gesundheit, heißt es, Hochschulmediziner nähmen ihre Patienten nicht ernst! 

Und was machen die Alternativen? Nehmen sie solche Patienten ernst? Ich glaube, allenfalls nur vordergründig! Die schreiben Globuli auf und schicken die Patienten nach Hause mit der Prophezeiung, es könne jetzt besser werden (Erfolg), oder so bleiben (auch Erfolg) oder es könne zu einer (Erst-)Verschlimmerung kommen (erst recht Erfolg!). Jedenfalls: Die Alternativen sind diese Patienten los und die Patienten sind trotzdem glücklich – aber sie sind nicht „geheilt“! 

Globuli

Ist das denn nicht eine Form der Flucht? Die Alternativen „instrumentalisieren“ die Gabe von Globuli (oder Anthroposophika, Bachblüten, Schüsslersalze oder was auch immer) – und sie machen es sich damit ganz schön leicht! Sie können sich um die Verkündigung unangenehmer – oder auch nur unbeliebter – Wahrheiten herumdrücken! 

Über das Phänomen, dass die Patienten heute zunehmend an ihrer Gesundheit leiden, habe ich einen sehr schönen Artikel von Prof. Dörner im Deutschen Ärzteblatt gelesen! Prof. Dörner hat mir so richtig aus der Seele gesprochen! Dt. Arztebl 2002; 99: PP 449–453 [Heft 10]

Und einen anderen Gedanken trage ich schon lange mit mir herum. Mir ist aufgefallen, dass die Anhänger der Alternativen eine gewisses hysterisches Verhalten zeigen. Hysterie jetzt nicht im beleidigenden Sinne gemeint, sondern als eine der von Fritz Riemann beschriebenen vier Grundformen der Angst. Zwanghaftigkeit und Hysterie: zwei gegensätzliche Formen der Angst. Während die Zwanghaften vor jeder Änderung Angst haben (Hermann Hesse: „Einmal nur zu Stein werden; einmal nur dauern“), haben die Hysteriker Angst vor der „Notwendigkeit“, vor der „Konsequenz“, Angst vor „Unverrückbarem“, vor „Festem“. Hysteriker sind „flatterhaft“, sie sind nicht „festzunageln“. 

Während in der Gesellschaft Begriffe wie z. B. „Pluralismus“ und „Demokratie“ zu Hause sind, gelten diese Begriffe in der Natur nicht! Die Natur fragt den Menschen nicht, wie sie ihre Gesetze formulieren soll! Die Naturgesetze stehen unverrückbar fest! Sie sind also geeignet, bei Hysterikern Angst auszulösen! Außerdem nimmt die Natur auf diese Weise dem „aufgeklärten“ Menschen das Recht, am Gesetzgebungsprozess teilzunehmen. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Was bildet sie sich ein – die Natur! 

Wenn die wissenschaftliche Medizin sagt – sagen muss! – dass eine Erkrankung nicht heilbar ist (z. B. inoperabler Krebs, der ausbestrahlt ist und die Chemotherapie schlägt nicht an), dann ist das ein hartes Urteil! Ein Todesurteil! Und die Naturgesetze tragen die Schuld daran! 

In gewisser Weise bringe ich durchaus Verständnis auf, dass die Betroffenen sich einer „Lehre“ zuwenden, die ihnen Konsequenzen erspart. Alternative Heilmethoden tun nichts anderes, als die Flucht vor Naturgesetzen zu versprechen. Der Satz: „Substanzen können nur wirken, wenn sie anwesend sind“, ist Naturgesetz. Der Satz: „Substanzen wirken auch bei Abwesenheit“, setzt die Naturgesetze außer Kraft. Auf diese Weise verspricht die Lehre der Homöopathie seinen Anwendern Macht! Macht über die Naturgesetze!  – Ich kann schon verstehen, dass hierin eine gewisse Attraktivität liegt! 

Aber: Es ist natürlich Wunschdenken! Tatsächlich kann kein Mensch wider die Natur handeln. Alle alternativen Heilungen versprechen zwar Macht über die Natur, können das Versprechen aber nicht einhalten. Jeder alternative Therapeut, der das unbewusst und unreflektiert tut, ist ein Traumtänzer! Und jeder, der das bewusst tut, ein Betrüger! 

Es ist nicht nur ärgerlich, dass die Betrüger ihren Patienten falsche Tatsachen vorspiegeln, sich Vertrauen erschleichen und ihnen nach dem Munde reden, die Patienten ihrem Schicksal überlassen und dafür abkassieren! Es ist auch ärgerlich, wenn die Traumtänzer die Chance zu Gesprächen mit den Patienten verspielen, weil sie schnell mal Kügelchen geben und glauben, damit genug getan zu haben! – Wenn auch viele Patienten nicht geheilt werden können, so ist es doch absolut wichtig, auch mit diesen Patienten offen und ehrlich zu sprechen! Auch bietet nur die wissenschaftliche Medizin ein ganzes Arsenal an „palliativen“ Methoden – Methoden, die zwar das Leben nicht verlängern, aber die Lebensqualität erheblich steigern! Das ist die eigentliche Humanität! In diesem Sinne ist die wissenschaftliche Medizin die einzige „Humanmedizin“ die es gibt!

 

Literaturangaben:
Dörner: In der Fortschrittsfalle, Dtsch Arztebl 2002; 99: PP 449–453 [Heft 10]
Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Reinhardt Ernst, München. Januar 2003. ISBN: 3-497-00749-8